Zur Premiere des Nio EL6 konnten wir das ausgewachsene SUV einem kurzen Test unterziehen. Wolfgang Schäffer berichtet, wie es ihm in dem 4,85 Meter großen Allradler gefallen hat.

Nach vier Jahren stellte Nio Anfang des Jahres die zweite Generation des SUV ES6 vor, das unterhalb des „größeren“, hierzulande als EL7 bekannten SUV angesiedelt ist. Für den Import nach Europa wechselte auch der ES6 auf der Überfahrt aus China seinen Namen: So wird er in Europa wegen eventueller Verwechslungsgefahren mit Ingolstädter 4-Ringe-Modellen zum EL6. Gegenüber der ersten Generation veränderten sich Abmessungen und Gewicht kaum – und auch die austauschbaren Akkus blieben als Alleinstellungsmerkmal der Marke erhalten.

Kleiner ist kleiner?

Der EL6 soll, zumindest suggeriert das die kleinere Zahl im Namen, so etwas wie der kleine Bruder des EL7 sein. 4,85 Meter Länge, zwei Meter Breite (mit Außenspiegeln 2,21 Meter) und eine Höhe von 1,70 Metern unterscheiden sich allerdings nicht wesentlich von den 4,19 x 1,99 x 1,72 Metern des „größeren“ Bruders. So bietet auch der EL6 bei einem Radstand von 2,92 Metern mehr als nur ausreichenden Platz für Passagiere und Gepäck. Insbesondere auf den Rücksitzen können die Mitfahrer in der zweiten Reihe beste Bein- und Kopffreiheit genießen. Darüber hinaus wurde beim Schritt in die zweite Generation auf Kritik von Kunden reagiert: Die bisher zu kurze Oberschenkelauflage im Fond bietet mit den neuen, 510 mm langen Sitzkissen auch größeren Menschen genug Unterstützung. Zudem sind die Lehnen elektrisch zu verstellen. 

Der EL6 ist mit einer komplett neu entwickelten Sitzgeneration ausgestattet, die auf einer speziellen, neunschichtigen Polsterung aufbaut. Diese Kombination konnte auf den ersten knapp 200 Testkilometern einen wirklich guten Eindruck hinterlassen – sowohl was den Seitenhalt betrifft, als auch in Bezug auf den eigentlichen Komfort. Der Fahrersitz kann auf 20 Wegen auf den Körper eingestellt werden – in Verbindung mit dem höhen- und tiefenverstellbaren Lenkrad wird jeder eine ideale Position hinter dem Steuer finden.

Völlig neu agiert die Belüftung der Sitze. Im Vergleich zum Vorgänger leitet sie keine Luft mehr in den Sitz, sondern saugt sie hinter dem Rücken heraus, was sich am Rücken weitaus angenehmer anfühlt. Für den Lounge-Sitz auf der Beifahrerseite verlangt Nio 1.000 Euro Aufpreis – stellt dann aber 22 Varianten zur Wahl bis hin zu einer per Tastendruck aktivierbaren, so genannten Schwerelosigkeitsposition. Zudem bietet der Liegesitz eine verstellbare Beinauflage für eine nahezu waagerechte Ruheposition. Weitere Ausstattungspunkte: eine Belüftung, ein Acht-Punkt-Massagesystem und eine Drei-Zonen-Heizung, separat für Sitzkissen, Rückenlehne und Beinauflage steuerbar.

Bedienung auf familiärem Niveau

Das Cockpit wirkt analog zu anderen Nio-Modellen extrem aufgeräumt. Kein Wunder: Es gibt so gut wie keine Schalter und Knöpfe. Nur für Fensterheber, Warnblinkanlage, die automatische Ver- und Entriegelung der Türen sowie die Wahl der Fahrmodi gibt es erfühlbare Tasten. So ist auch der Modus Sport Plus nun direkt anwählbar – ein Wunsch, der laut Nio häufig genannt wurde.

Neben dem bekannten, 10,2 Zoll großen digitalen Cockpit gibt es ein ein Touchdisplay mit 12,8 Zoll langer Diagnonalen. Mit einem neuen Betriebssystem und einer nächsten Software-Generation haben aber eine überarbeitete Grafik weitere Verbesserungen Einzug gehalten. Der bekanntermaßen oftmals vorlaute bis nervige Sprachassistent Nomi kann jetzt einfach stumm geschaltet werden. Mit der neuen Generation zog auch eine bessere Anzeige von Ladepunkten in der Abteilung Navigation ein.

Zwei getrennte Gruppen arbeiten an der Weiterentwicklung der Software: Jede kann etwa alle sechs Monate eine neue Variante bereitstellen. So steht für das Betriebssystem vierteljährlich ein Update mit neuen Funktionen und (Sicherheits)Verbesserungen bereit. Davon getrennt sind die Firmware-Versionen für die Steuergeräte in den unabhängig voneinander laufenden Elektronikkreisläufen. Karosseriefunktionen, Fahrwerk, Energieversorgung, digitales Cockpit und Fahrassistensystem können separiert auf einen neuen Stand gebracht werden.

Schub! Aber mit Kontrolle

An jeder Achse des Nio EL6 gibt es einen eigenen Elektromotor, was einen Allradantrieb realisiert. Der Induktionsmotor an der Vorderachse zieht mit 150 kW (204 PS), der Permanentmagnetmotor schiebt mit 210 kW (299 PS) an. Die Systemleistung von 360 kW (489 PS) und das  Drehmoment von 700 Newtonmetern ermöglichen den Sprint Null auf Tempo 100 in 4,5 Sekunden. Als Höchstgeschwindigkeit stehen 200 Kilometern pro Stunde in den Papieren.

Mit der serienmäßigen Luftfederung lässt es sich flott über ramponierte Straßen räubern, ohne dass es den Passagieren zu sehr auf Gemüt und Magen schlägt. Trotzdem reagiert der EL6 bestens auf die Kommandos vom Fahrersitz, wenn einmal eine sportliche Gangart gefordert ist – ohne übermäßiges Wanken der Karosserie ist ein Schieben über die Vorderräder kaum zu bemerken. Das Temperament wird von einer Vierkolben-Bremsanlage eingefangen, die nach 34,5 Metern von Tempo 100 für Stillstand sorgt.

Elektrischer Anschluss

Wie bisher können Kunden zwischen zwei Batteriegrößen auswählen. Die 75-kWh-Variante soll laut Nio nach WLTP-Norm für eine Reichweite von 406 Kilometern stehen. Die größere Variante des Akkus bietet eine Kapazität von 100 kWh und schafft demnach bis zu 529 Kilometer. Letzterer verträgt jetzt durch ein Update eine DC Ladeleistung von bis zu 180 kW vertragen – bisher waren es 130 kW. Das beschleunigt die Schnellladezeit von 10 bis 80 Prozent am Anschluss auf der Fahrerseite hinten auf 30 Minuten. Auf etwa 200 Testkilometern mit vielen Steigungen, Abfahrten, Kurven und einem etwa 70 Kilometer langen Autobahnabschnitt sind wir bei Geschwindigkeiten bis hinauf zu 130 bis 140 km/h auf einen Durchschnittsverbrauch von 21,1 kWh/100 km gekommen.

Im EL6 stehen 579 bis 1.430 Liter Ladevolumen zur Verfügung – allerdings nur im Heck des Wagens, denn einen Frunk gibt es nicht. Zusätzliches Gepäck kann außerhalb der Karosserie transpoortiert werden: Die Anhängelast beträgt 1,2 Tonnen bei einer Stützlast von 100 Kilo auf der elektrisch ausfahrbaren Kupplung. Zusätzlich können 75 Kilo aufs Dach gestellt werden.

Viel kostet – viel

Nio hat dem etwa 2,3 Tonnen schweren EL6 eine umfangreiche Austattung mitgegeben. Schon zur Serienausstattung gehören unter anderem das fast einen Quadratmeter große Panorama-Glasdach, das hochwertige Infotainmentsystem mit 23 Lautsprechern und einer Leistung von 1.000 Watt, das Head-up-Display, ein 6,6-Zoll-Tochdisplay hinten sowie die hochwertige Materialauswahl im Innenraum und eine Wärmepumpe. In der Optionsliste stehen unter anderem auch Felgen in den Größen 20 und 21 Zoll – es gibt sie in Leichtmetall oder Carbonfaser-Ausführung.

Für 53.300 Euro kann man in den Nio EL6 einsteigen – allerdings ohne Speicher für den Strom. Dazu lässt sich Nio die Batterie bezahlen: 75 kWh bzw. 100 kWh kosten 12.000 respektive 21.000 Euro. Ím monatlichen Leasing fallen 169 beziehungsweise 289 Euro an. Hinzu kommt bei der monatlichen Bezahlung die Möglichkeit die Akkus an einer der aktuell in Deutschland bestehenden sieben Swap Stationen zu wechseln. Diese Option entfällt beim Kauf des Akkus.

Im Komplettleasing kostet das Basismodell des EL6 bei einer Laufzeit von 36 Monaten und einer festgeschriebenen Kilometerleistung 1.179 Euro, die 100-kWh-Version 1.309 Euro.